Von Generalleutnant a.D. Harald Kujat:
ZitatAlles anzeigen"Bundeswehr kann uns im Ernstfall nicht verteidigenIn der Ukraine-Krise ist uns bisher eine militärische Eskalation erspart geblieben.
Russland konnte sein wichtigstes strategisches Ziel ohne den Einsatz militärischer Gewalt erreichen: die Annexion der Krim.
Die Krise zeigt aber: Die Bundeswehr ist auf den Ernstfall unzureichend vorbereitet. Und das ist ein Problem für die gesamte NATO. Darauf muss die Bundeswehr reagieren – um die Verteidigungsfähigkeit der NATO zu gewährleisten:
► Das Verhältnis von leicht bewaffneten zu mittleren und schwerer bewaffneten Verbänden muss umgekehrt, die Einsatzbereitschaft erhöht und die strategische Verlegefähigkeit verbessert werden.
► Wir brauchen ein gut ausgebildetes Reservistenpotenzial, um kurzfristig die aktiven Verbände zu ergänzen.
► Eine technologisch hochwertige Ausrüstung und Bewaffnung ist unverzichtbar. Das erfordert jedoch die politische Bereitschaft, deutlich mehr als bisher in die Leistungsfähigkeit der Streitkräfte und die Sicherheit der Soldaten zu investieren.
► Schließlich gilt es, von der Fiktion Abstand zu nehmen, Qualität könne die fehlende Quantität ausgleichen. Die Bundeswehr braucht mehr Soldaten! Allerdings ist die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht, die der Bundeswehr qualitativ hochwertiges Personal in ausreichender Zahl gegeben hat, politisch wohl nicht durchsetzbar. Deshalb müssen größte Anstrengungen unternommen werden, diesen Verlust auch gegen die starke Konkurrenz der Wirtschaft auszugleichen.
Die Ukraine-Krise wird in der NATO längst als Weckruf gesehen – insbesondere für die europäischen Verbündeten.
Trotz aller starken Worte des NATO-Generalsekretärs bestehen berechtigte Zweifel, ob die militärischen Fähigkeiten der NATO geeignet wären, die baltischen Staaten und Polen erfolgreich gegen einen Angriff Russlands zu verteidigen. Vor allem, ob sie überhaupt rechtzeitig zur Stelle wären.
Hintergrund: Der massive Aufmarsch russischer Truppen hat in den baltischen Staaten und in Polen Befürchtungen aufkommen lassen, auf die es zu reagieren galt.
Als Konsequenz aus der Ukraine-Krise und dem damit einhergehenden Schutzbedürfnis der östlichen Bündnisstaaten hat der NATO-Generalsekretär bereits gefordert, die Einsatzbereitschaft und Reaktionsfähigkeit der NATO-Streitkräfte zu erhöhen.
Zur Stärkung der kollektiven Verteidigungsfähigkeit soll es mehr Geld geben. So könnte die vereinbarte Marke von zwei Prozent des BIP endlich erreicht werden. Seit langem bestehende Defizite bei den militärischen Fähigkeiten sollen beseitigt und die Einsatzpläne überprüft werden.
Tatsächlich hat die dramatische Reduzierung der Verteidigungsausgaben der meisten europäischen NATO-Staaten zu erheblichen Einbußen bei der kollektiven Verteidigung geführt.
Bereits 2011 hatte der damalige amerikanische Verteidigungsminister Gates von der „Demilitarisierung“ Europas gesprochen. Bei den größeren Staaten, Großbritannien und Deutschland sowie teilweise auch Frankreich, gab es einen Paradigmenwechsel: Priorität erhielt die Fähigkeit zu Krisen- und Stabilisierungseinsätzen; die Landes- und Bündnisverteidigung wurde dagegen deutlich eingeschränkt.
Das gilt insbesondere für die Bundeswehr: Sie wurde verkleinert, Einsatzbereitschaft, Schlagkraft und die Fähigkeit zu einem längeren Einsatz wurden reduziert.
Genau das hat erhebliche Auswirkungen für die NATO!
Während die französischen und britischen Streitkräfte traditionell als Expeditionsstreitkräfte mit der Fähigkeit zu Überseeeinsätzen ausgelegt sind, hatte die Bundeswehr bisher gemeinsam mit den amerikanischen Streitkräften die Hauptlast der kollektiven Verteidigung in Mitteleuropa getragen.
Doch dann kamen entscheidende Änderungen: Die amerikanischen Streitkräfte haben ihre Kampftruppen weitgehend aus Europa abgezogen. Zugleich sieht die laufende Bundeswehrreform sowohl strukturell als auch im Hinblick auf die Hauptwaffensysteme nur noch marginale Fähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung vor.
Ergebnis: Die Verteidigung exponierter Verbündeter wie Polen und die baltischen Staaten steht auf tönernen Füßen.
Der ehemalige amerikanische NATO-Botschafter Nicholas Burns hat Deutschland bereits vor zwei Jahren als zweitklassige militärische Macht bezeichnet, deren militärische Schwäche das größte Problem der NATO sei.
Die Bundesregierung wird sich nun sehr bald auf die internen Überlegungen der NATO einstellen müssen. Die Truppe braucht eine langfristig angelegte Transformation, eine moderate Richtungsänderung, um die gravierendsten Defizite zu beseitigen.
Eine Reform der Reform hingegen ist weder den Streitkräften zuzumuten noch ist sie politisch mehrheitsfähig. Schließlich bleiben die politisch gesetzten Einschränkungen (finanziell niedriges Niveau, gravierende Nachwuchsprobleme bei deutlich verringerter Personalstärke) bestehen.
Wichtiger Ausgangspunkt für die Transformation wäre die Anerkennung, dass die Landes- und Bündnisverteidigung auch in der praktischen Umsetzung wieder die höchste Priorität erhalten muss.
Konventionelle Verteidigungsfähigkeit ist die beste Grundlage auch für Krisen- und Stabilisierungseinsätze – nicht umgekehrt. Gerade der Afghanistan-Einsatz hat gezeigt, wie schnell in einem Stabilisierungseinsatz kriegsähnliche Verhältnisse mit intensiven Kampfhandlungen entstehen können.
Daraus ergäben sich die eingangs genannten Maßnahmen, um die Truppe wieder fit für den Ernstfall zu machen.
Denn die Ukraine-Krise hat uns gelehrt, dass es in der Außen- und Sicherheitspolitik keine Gewissheiten gibt. Wer sich nur auf den wahrscheinlichen Fall vorbereitet, könnte bald von dem gefährlichsten Fall überrascht werden."
Quelle: BILDplus